Über 30 Jahre Näherfahrung.

Reichen nicht.

Um zu kalkulieren, wieviel Stoff ICH benötige. Wohlweißlich habe ich ICH geschrieben. Denn das Kleid, das ich nähen wollte, ist ein Schnitt von mir und hört auf den Namen Yasashi. Es gibt eine hübsche Anleitung dazu. Und selbstverständlich beinhaltet diese auch Stoffmengenangaben. Wenn ich mir selber Glauben schenken darf, dann braucht Yasashi 2,70 m bei einer Stoffbreite von 1,4 m. Nur, ich habe gefühlt noch nie 2,7 m Stoff gekauft.

Mit einer zuerst materiell üppigen, später dafür umso mageren Kindheit ausgestattet, einem Erwachsenenbewusstsein gegenüber lukrativen Karrieren, das dieselben eher abgrundtief verachtet, als anstrebt, sieht es mit meinem Stoffbudget schon seit immer mau aus. Mit etwas Herumgefuddle gelingt mir aber meistens der Drahtseilakt aus zwei Metern quasi drei zu machen.
Dazu kommt, dass ich sehr gut bin uangenehme Dinge zu verdrängen, wenn nicht gar zu vergessen. Ich bin Widder im Sternzeichen. Das sind Schafe. Und man kann es drehen wie man will, Schafe sind für alles mögliche gut, aber über überbordende Intelligenz dieser Tiere ist jetzt nicht allzu viel bekannt.

Nur so ist zu erklären was passierte, als ich mir eines Tages ein schön zurechtgelegtes Nähprojekt gönnen wollte. Sozusagen als dringend notwendiger Counterpart zu meinem beruflichen Leben, wo jetzt trotz aller für alle HR-Abteilungen unschönen Nebenfahrbahnen nun doch ein Hauptweg eingeschlagen werden soll. Ich hatte vor einiger Zeit ein wunderbares weißes Leinen im Lieblingsstoffgeschäft gekauft. Es hört sogar auf einen Namen: Milk. Ich meine wie vielversprechend ist das? Die Urmutter aller Nahrungsmittel als Farbname. Schöner kann es nicht sein. Nun, etwas moralisch angeschlagen, griff ich zu Milk, griff zu meinem Schnitt, legte alles schön auf.
Und stellte fest, dass wenn ich nicht schon wieder ein Kleid in maximal Knielänge haben will und die Bindebänder quasi aus der Nahtzugabe zuschneiden muss, dann muss ich mir eingestehen, dass ich zuwenig Stoff habe. (Ist nicht Selbsterkenntnis der erste Schritt… und so?) Also ich ganz großmütig mit mir selbst, widme mich also dem Oberteil, während der Milchnachschub sich  auf den Weg macht. Ich fertige filmreife Krägen. Ok, nur einen. Aber ebenso filmreife Hemdärmelschlitze. Ich bin ganz Zen. Ruhe in mir selbst.
Der fehlende Stoff kommt. Wird gewaschen und zum bereits fortgeschrittenen Oberteil herangeführt. Ich stutze. Farblich sehr ähnlich. Aber die Struktur? Das gibts doch nicht. Hat der Hersteller das Material geändert? Diese uralte Regel wie beim Stricken für ein Kleidungsstück immer nur Material aus einer Färbung zu nehmen, gilt selbstverständlich auch fürs Nähen. Aber wer will glauben, dass man das einer Frau, die seit über 30 Jahren näht, erklären muss?
Und dann dämmert es gaaaaannnzzz langsam so von gaaaanzz hinten herauf, dass ich vielleicht den ersten Stoff NICHT gewaschen habe, bevor ich – ganz Zen – zugeschnitten habe.

Nun. Als diese Erkenntnis sich dann zu einer Gewissheit formiert hat, ging alles ganz schnell.
Rückblickend analysiert würde ich sagen, dass ich in den Reptilhirnmodus gefallen bin. Wieso eine fast 50-jährige Frau, bei der Erkenntnis ein paar Schnittteile aus einem ungewaschenen Stoff zugeschnitten zu haben, auf nur noch Basisfunktionen sicherndes Reptilhirn umschaltet, das frage ich mich auch. Aber es muss so gewesen sein. Denn diese Frau, also ich, hat all die zugeschnitten Teile AUS LEINEN, einem Material, von dem jedes Kind weiß, dass es franst als ginge es um einen Preis, in die Waschmaschine gesteckt und gewaschen. So wie den Stoff vorher.
Als die Maschine fertig war und ich hoffnungsfroh das Bullauge öffnete, war ich nicht mehr im Reptilhirnmodus.
Das tut dann ziemlich weh.
Die Erkenntnis, dass man etwas getan hat, was man NIE UND NIMMER tun sollte. Ja, einem völlig unerklärlich ist, WIE ZUM TEUFEL JEMAND AUF SO EINE SCH… Idee kommen kann, unversäuberte Teile aus Leinen in der Waschmaschine zu waschen???

Ich glaube ich bin nur begrenzt fähig mit erniedrigenden Ausnahmesituationen umzugehen. Meine Jobsituation – oder besser die NICHTvorhandene Jobsituation verlangt mir soviel ab, dass ich nicht fähig bin, mit weiteren Krisen umzugehen. Es ist schlicht einfach nicht mehr genug Hirnmasse vorhanden, um auch noch woanders bei unvorhergesehenen Situationen den Überblick zu behalten, kurz innezuhalten, einen Schritt zurückzutreten, ja womöglich eine Nacht dazwischen zu schieben um den Synapsen Gelegenheit zu geben, sich neu zu formieren und eine Entscheidung zu treffen, die meiner würdig ist.

Nach all diesem Dilemma bin ich – wieder mal in der großen Stadt wegen Bewerbungsgespräch, bzw. ENDLICH mal zu einem eingeladen… also das Lieblingsstoffgeschäft aufgesucht und nochmal Milk gekauft. Dann gleich gewaschen und seither in Ruheposition. Auch das wohlwollendste Wohlwollen einem selbst gegenüber hat Grenzen. Und wenn ich nochmal diesen Stoff kaufen muss, weil ich irgendwas dabei versch… glaube ich, dass ich die Nähmaschinen verkaufe.
Nein, ich bin ganz und gar nicht Zen.