Was ist schon ein Jahr?

Vor einem Jahr betraten meine Kinder eine bis lang unbekannte Volksschule.
Am Land.
Im Sommer vorigen Jahres wurde aus dem Wochenendhaus ein Dauerheim.
Wie ist ein Jahr am Land?

Im Großen und Ganzen – gut.

Die Hintergründe für den Schritt aufs Land sind vielfältig und lagen zum größten Teil bei mir.
Mein Lebenslauf ist alles andere als ein langer ruhiger Fluss und das hat wohl dazu geführt, dass das Flussbett sehr ausgehöhlt war… sprich, ich war fertig. Kaum ein Lebensbereich, der nicht groß aufgeschrien hat und Aufmerksamkeit wollte. Der Hörsturz im Juni 2014 hat mir dann gezeigt, dass ich auch körperlich ganz schnell was ändern muss.
Mit dieser Ausgangssituation ist ungefähr ALLES besser als nichts zu tun.

Am Land zu leben erschien mir als ein großer Schritt zwar, aber vergleichsweise einfach zu bewerkstelligen – dank eben dem Umstand, dass wir schon das Haus hatten, dass wir schon jedes Wochenende hier verbracht haben, dass die Großeltern hier leben, dass ich hier teilweise aufgewachsen bin…

Nun ein Fazit:

Das Leben am Land ist gut.
ABER.
Ich hätte es wohl vor zwanzig Jahren nicht gekonnt.
In der Stadt lebt man in einer Blase: Der Freundeskreis ist gut kuratiert und selbst die Arbeitswelt ist aufgrund der Optionen weitestgehend auf die persönliche Denke abgestimmt. Wer oder was da nicht dazu passt, wird eben außen vor gelassen.
Aus der Ferne betrachtet nicht fürchterlich tolerant. Wozu auch? Man ist sich größtenteils einig über Weltanschauung, Politik, Mode, Kindererziehung…
DAS ist am Land nicht möglich.
Täglich werde ich eingeladen Toleranz zu üben.
Meinen Schwiegereltern gegenüber, die jetzt natürlich näher sind, und vom Garten bis zum Haarewaschen der Kinder Bemerkungen fallen lassen.
Meinen Mitbürgern, die jedes..“wir könnten doch…“ mit „Das geht alles bei uns nicht…hamma schon alles probiert…das kannst du hier bei uns vergessen…“ im Keim ersticken.
Meinen Kolleginnen, die jeden Tag alle Schlagzeilen der Gratiszeitungen wiederkäuen. Hätte man nur sie als Informationsquelle, man hätte den Eindruck, wir wären nur einen Hauch vom Weltuntergang, Sodom und Gomorrha, der Übernahme durch feindliche Organisationen und natürlich ganz aktuell: dem uns total vernichtenden Flüchtlingsstrom entfernt.

Das kann ich mit 43 jetzt ganz gut.
Ich muss niemanden belehren, ich weiß, dass ich gar nicht mehr die Energie dazu habe. Ich lerne  (nicht ohne Aufwand ;-)) meine Meinung zu vertreten, auch wenn ich die Einzige bin und ohne die anderen zu entwürdigen. (Oder anzuschreien ;-)).
Ich kleide mich so wie ich es für mich gut finde.
Ich kann damit leben, dass ich wohl nie ganz zu dieser Herde gehören werde, aber ich kann ihre Regeln soweit akzeptieren, dass ich auch auf ihrer Weide grasen darf.

Dasselbe gilt für meine Kinder.
In der Stadt hätte ich wohl garantiert die Schule gewechselt.
Hier durften mein Kind und ich lernen, dass es auch noch einen anderen Weg gibt.
Dass Sich-Behaupten ohne andere vor den Kopf zu stoßen auch eine gute Fähigkeit ist fürs Leben.
Dass es auch mal gut sein kann (obwohl man das im Moment sicher nicht so sieht), einfach zu tun, was andere von einem verlangen, ohne darüber zu diskutieren – und sich die Reflexion darüber für zu Hause aufzuheben.

Und da wären wir bei noch einem erwähnenswerten Aspekt:

Die ländliche Kinderbetreuung ist in den Kinderschuhen.
Meine Kinder besuchen zweimal die Woche die Nachmittagsbetreuung und mehr würde unser Familienleben nicht tragen, denn ich muss – vor allem mit dem jüngeren Kind – an den übrigen Tagen, die nicht erledigte Hausübung der Vortage nachholen.
In der Stadt wären wohl 24 erzürnte Mütter am Tag 3 der Nachmittagsbetreuung in der Kanzlei gestanden und hätten gefragt, was das soll, dass Kinder ohne HÜ nach Hause gehen können und ob man ernsthaft glaube, dass sie am Abend nach einem anstrengenden Arbeitstag sich nun auch noch hinsetzen um mit ihren Kindern die HÜs zu erledigen.
Hier sind die Mütter, die ihre Kinder in die Nachmittagsbetreuung geben größtenteils Frauen der unteren sozialen Schichten, die nun froh sind, dass sie ihre schlecht bezahlten Jobs besser ausüben können. Das sind nicht Frauen, die in die Direktion rauschen um dort mal gehörig Stunk zu machen.
Die Frau am Land, die etwas auf sich hält – IST AM NACHMITTAG BEI IHREN KINDERN ZU HAUSE!
Das Zeugnis des Kindes ist das Aushängeschild der Mutter.
Hat ein Kind einen Dreier wird nicht gefragt, wo die Lehrperson etwas nicht gut genug vermittelt hat, sondern warum die Mutter sich nicht um das Kind kümmert.

ANDERERSEITS – und jetzt kommt´s:
Dadurch habe ich ein näheres Verhältnis zu meinen Kindern bekommen. Ich habe mehr Ahnung was sie gerade beschäftigt, wo ihre Schwächen liegen. Ich bin eine zentralere Figur in ihrem Leben, unserem Leben geworden. Wie hier üblich – und in unserer Situation drängte es sich auf, weil so einfach zu organisieren, lernen nun beide Kinder ein Musikinstrument. Das bedeutet noch zusätzlichen Übe-Aufwand. Für mich als Mutter heißt das konkret: Mittagessen kochen (mehrmals die Woche: was koche ich, was ich aus ernährungsbewussten Gründen vertreten kann, von Kindermündern aber akzeptiert wird?), Hausübung machen, Instrument üben, eventuell irgendwas lernen. Dann erst Freizeit.
Ich arbeite 24 Stunden und würde sagen, im momentanen Alter meiner Kinder geht keine Stunde mehr.
Wie in aller Welt habe ich die letzten Jahre gelebt? (s.o., die Rechnung habe ich ja präsentiert bekommen…)

Unterm Strich bin ich für alles dankbar, was mir hier widerfahren ist.
(Ich spüre Widerstände dies auch für unseren noch immer nicht fertigen Mini-Zubau anzuwenden, aber irgendwann werde ich wohl auch hier erkenne, warum wir absolut jeden Fehler machen mussten, den Leute, die bauen, machen.)
Einer der wichtigsten Aspekte ist wohl, dass ich es geschafft habe, meinen beruflichen Weg der letzten Jahre zu verlassen. Und ich nehme an, das hätte ich in der Stadt nicht geschafft. Zu viele Angebote, die interessant sind, hätten es mir erlaubt, einfach immer weiter zu machen…noch ein Job hier, ein anderer da. Das ist ein tolles Angebot und wenn das nicht klappt, könnte man auch das…
Dazu der selbst auferlegte Konkurrenzdruck: Was macht die jetzt? Warum haben die nicht MICH für das Projekt angerufen? Hätte ich mehr auf dem Blog.., ich muss mehr Fb…
Jetzt arbeite ich in einem Gebiet, das ganz woanders liegt, als alles was ich bisher gemacht habe. Ich bin quasi Lehrling. Ich arbeite in einer Ebene, die ich wohl auch nie angenommen hätte.
Es interessiert hier keine S.. was ich vorher gemacht habe und bei Blog denken die Leute hier eher an einen Schreibfehler.
Die magere Jobsituation hier lässt mich dankbar sein, für das was ich habe.
Und wie meine kleine Tochter darf ich lernen unangenehme Situationen auszuhalten. Ohne Fluchtgedanken, ohne Änderungswunsch. Einfach mal hinnehmen.
Aus meiner persönlichen Sicht ist das schon sehr nah am angewandten Zen-Buddhismus. ;-))

Insofern kann ich sagen, dass das Land – für mich und momentan – das Beste ist was mir passieren konnte.

After some hard turns in my life I decided to move to our country house to live there whole year round. Now a whole year is gone and its a good moment to resume:
Life in countryside is good.
Of course.
Air is better.
Nature is just out of door.
Kids can stroll around the village unattended.
But it can be demanding, too:
In cities you live in a kind of bubble. Your friends are well curated and you share your opinion about nearly everything: jobs, politics, environment, fashion, raising children…. In most cases your jobs match these too.
Not much tolerance required.
Not so in the country.
Due to less people you cannot be very picky. 
On a daily base I am invited to show tolerance. Against my inlaws, who live in the same village – great for the kids and convenient for me, when it comes to illness, doctors appointments, shopping trips…Not so great with unasked tips. Tolerance is required with my colleagues and neighbors. 
But I love this. With 43 I can learn to stand situations. Not to think about escape. Or mission. Or conversion.
Same to my kids.
Living in the city I would have changed school.
Here – especially the little girl – has chances to learn how to survive in a group. Even if you dislike some other group members. Even if you feel treated unfair by group leader. Think university of life.
In the end I have the impression I am getting closer to my kids. We now have a ONE family life. Not a mummys life and kids life, which meets at the end of the day. I am forced to prepare lunch, attend homework, music exercises. But in reverse I get knowledge about fears and joys of my kids.
I work 24 hours/week and in our current situation I could not do more. I deeply wonder how I was able to live my former live – or I recognise know why I felt so extremely exhausted last year and the sudden hear loss last June was a big sign of my body to change something.
Due to the poor job situation in this part of my country I am happy doing what I do. It has absolutely nothing to do with any of my former educations or experiences. And maybe this is exactly what I needed: to get off this super busy buzzy oh so important creative life train, I have been on for the last 20 years. Here nobody knows me or what I have done or still do. Nobody is impressed by what I am wearing or who do I know. Chances are high I would not have been able to do this sharp cut in town.
Too much interesting offers, too much possibilities to stay in these bubble and to feel stressed about what others do? why did they not ask me? I should do more at the blog, maybe I should start Twitter… not easy to reduce working time. Au contraire it seems everyone is extending online hours and of course everyone is looking so damned good doing this.
In my case I have the impression moving to the countryside was a perfect decision.
Let´s see what I say next year?

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4 Kommentare
  1. judith
    judith sagte:

    Na Grüß Gott, ich bin gespannt! Ich wage genau diesen Schritt jetzt grade, in 2 Wochen sind wir von Wien endgültig weg.

  2. oh-mimmi
    oh-mimmi sagte:

    "Die Frau am Land, die etwas auf sich hält – IST AM NACHMITTAG BEI IHREN KINDERN ZU HAUSE!
    Das Zeugnis des Kindes ist das Aushängeschild der Mutter." Uah … Du hast absolut recht, so ist das auf dem Land! Als ich wieder anfing nach 6 Jahren (!) zuhause zu arbeiten und das auch noch im Schichtdienst wurde ich doch allen ernstes von den anderen Müttern gefragt: "und wer putzt denn dann bei Euch?"
    Was Du beschreibst, die Vor- und auch die Nachteile des Landlebens … ich kann es nachvollziehen. Allerdings ist bei mir, die ich hier großgeworden und hängengeblieben bin, das Mass schön langsam voll. Als Außenseiterin, die auch gerne mal ihre andere Meinung kundtut, ist das hier auf Dauer kein Spaß … erst recht nicht, wenn man Kinder hat und unter der Beobachtung der anderen Mütter steht (die am Nachmittag ja immer daheim sind und sonst nichts zu reden haben, als über die Lehrer und die, die es in ihren Augen falsch machen, mit der Kindererziehung). Du siehst, mich würde es wohl eher in die Stadt ziehen, wenn ich könnte, wie ich wollte … Aber wie Du schon sagtest: alles hat seine Vor- und Nachteile 😉
    Christel

  3. verfuchstundzugenäht
    verfuchstundzugenäht sagte:

    …täglich werde ich eingeladen Toleranz zu üben…
    Ich weiß gaaaaanz genau was du damit meinst! Auch wenn ich in deiner Bezikshauptstadt wohne (der Name ist schon ein Witz für dieses Kaff) es ist einfach ganz genau so!
    Liebe Güße!

  4. grueneblume
    grueneblume sagte:

    Daumen hoch!
    Auch hier kam kürzlich die Erkenntnis dass sich was ändern muß.
    Bei mir seit dieser Woche Arbeitszeit reduziert auf 25 Stunden.
    Lieber Gruß Elke

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